Die Geschichte des Boulespiels

Zur Entstehung und Geschichte des Boule-Spiels (Pètanque)

Quelle: Marburger Boule-Club „Le Carreau“ e.V.

Boule/Petanque gehört zu einer Gruppe von Spielen, von denen einige französische Boule-Spiele (neben Petanque insbesondere noch Jeu Provencal und Boule Lyonnaise), das italienische Boccia und das britische Bowls heute am bekanntesten und verbreitetsten sind. Im 19. Jahrhundert waren Spiele dieser Art in Italien, Großbritannien und Frankreich als Volkssportarten mit regional unterschiedlicher Beliebtheit und mit lokal variierenden Regeln anzutreffen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts begannen sie dann größere Bedeutung zu gewinnen. Das änderte sich im Austragen von Wettbewerben, in der Gründung von Clubs und Verbänden sowie insbesondere in der Vereinbarung überregional verbindlicher Regeln.

Hierzu einige Daten:
1849 wurden in Schottland für Bowls Regeln aufgestellt, die noch heute weitgehend gültig sind. 1890 gründeten schottische Auswanderer in Australien einen Verband. 1892 wurde in Schottland selbst, 1893 in England, ein Verband ins Leben gerufen.

In Frankreich wurden etwa 1865 Regeln für Boule Parisienne (Boule de berges) entwickelt. Die ersten Regeln für Boule Lyonnaise vereinbarte man 1894 bei einem Turnier in Lyon, 1906 folgte die Gründung eines Verbandes für dieses Spiel. Aus Boule Lyonnaise entstand, mit einfacheren Regeln und kleineren Kugeln um 1907 das Jeu Provencal (provenzalisches Spiel). Durch weitere Vereinfachung der Regeln dieses Spiels entwickelte sich 1910 das Jeu de Petanque.

In Italien wurde 1897/98 in Rivoli und Turin der erste regionale Bocciaverband (Piemont) gegründet, dem erst 1926 ein nationaler, italienischer Verband folgte.

Die Entstehung von Pètanque

Pètanque, so wird überliefert, entstand in der kleinen Hafen – und Werftenstadt La Ciotat, die etwa 30 km östlich von Marseille liegt. Berichtet wird: Einige Spieler beschäftigten sich auf dem Bouleplatz der Stadt (an der heutigen Avenue de la Petanque gelegen) mit dem bewegungsreichen Jeu provencal. Jules LeNois, der zu dem Kreis gehörte, aber wegen einer Gehbehinderung nicht mitmachen konnte – ob Rheuma oder ein Unfall die Ursache war, ist unsicher – saß auf einer Bank und schaute zu. Schließlich begann er sich den Unmut, nur zuschauen zu können, damit zu vertreiben, dass er seine Kugeln auf die sehr kurze Distanz von nur drei Metern warf. In einer Spielpause kam sein Freund Ernest Piotet hinzu und leistete ihm bei dem neuen Zeitvertreib Gesellschaft. Andere schlossen sich an. Mit der Zeit einigte man sich darauf, aus dem Abwurfkreis, stehend, auf sechs Meter Distanz zu spielen. Gleichzeitig wurden weitere Regeln entwickelt, die vom Provenzalischen Spiel abwichen. Das geschah im Juni 1910. An das Ereignis erinnert heute eine Tafel an der Mauer des Pètanque-Platzes von La Ciotat.

Das Spiel gewann schnell Freunde in Marseille und in der ganzen Provence. Piotet war sein eifrigster Verfechter und bemühte sich um seine nationale Anerkennung, die er in der Bildung einer Petanque-Sektion im französischen Boule-Verband gesehen hätte, der damals von den Spielern des Boule Lyonnaise beherrscht wurde. Nach der letzten Ablehnung seines Antrags überredet er 1943 die Spieler des Provenzalischen Spiels, gemeinsam mit Pètanque einen neuen Verband zu gründen. Aus politischen Gründen konnte dieser Beschluss erst nach Kriegsende 1945 verwirklicht werden.

Bis in die 50er Jahre blieb Petanque im Wesentlichen ein regionales Spiel in der Provence und im Süden Frankreichs. Der innerfranzösische Tourismus an die Cote d’Azur machte danach das Spiel in ganz Frankreich etwas bekannter. Seinen wirklichen Wachstumsimpuls erhielt es aber erst Anfang der 60er Jahre, als die repatriierten Algerienfranzosen im ganzen Land die Einheimischen zum Spielen anregten. Diese Entwicklung lässt sich anhand der Verkaufszahlen für Petanque-Kugeln nachweisen.

In den letzten zwanzig Jahren dürften die Promotionsanstrengungen der Kugelhersteller zusammen mit der seit 1969 sehr aktiven Führung des französischen und des internationalen Verbandes zur Ausbreitung des Spiels wesentlich beigetragen haben. Der französische Verband gibt heute an etwa 500.000 Spieler Lizenzen aus, die zur Teilnahme an Wettbewerben berechtigen. Schätzungen besagen, dass fünf bis acht Millionen Franzosen Petanque spielen. Dem internationalen Verband gehören inzwischen 27 Länder an. In Deutschland haben nach dem Zweiten Weltkrieg Spiele wie Boccia, Boule Lyonnaise und Petanque Anhänger gefunden. Frühere Traditionen mit ähnlichen Kugelspielen aus Deutschland sind nicht bekannt. Für die Einbürgerung der Spiele werden insbesondere Urlaubserfahrungen und die engeren Kontakte zwischen den westeuropäischen Ländern nach dem 2.Weltkrieg als Ursachen genannt.1963 fanden sich Petanque-Spieler zum ersten Mal in einem Verein zusammen, nämlich dem Boule-Club Petanque in Bad Godesberg (laut Kölner Rundschau v. 7.2.1965). Petanque fand seine erste nationale Repräsentanz im 1980 gegründeten Deutschen Kugelsportverband , doch machten sich die Spieler bald wieder selbstständig und sind heute im Pètanque-Verband mit Sitz in Köln organisiert.

Pètanque und Provenzalisches Spiel

Die Popularität des Petanque-Spiels lässt sich zu einem guten Teil aus der relativ leichten Erlernbarkeit der Bewegungsabläufe erklären. Das kann durch einen Vergleich mit dem Provenzalischen Spiel verdeutlicht werden.
Zunächst die Gemeinsamkeiten: Bei beiden sind Spielkugeln und Ziel von gleicher Größe und gleichem Material, es sind die gleichen Mannschaftsformationen möglich und zugelassen, man spielt aus einem Abwurfkreis. Beide kennen die Vorgehensweisen des Legens und Schießens. Legen (frz. pointer) bedeutet, eine Kugel so nah wie möglich an das Ziel heranwerfen, Schießen (frz. tirer) nennt man das Wegstoßen einer gut platzierten Kugel durch einen gezielten Wurf. Die zum Sieg benötigte Punktzahl und die Zählweise entsprechen sich bei beiden Spielen ebenfalls.
Die Unterschiede liegen in der Spieldistanz und in den Bewegungsabläufen, die für das Legen und Schießen vorgeschrieben sind: Während bei Petanque das Ziel zu Beginn der Aufnahme zwischen sechs und zehn Metern vom Kreis entfernt zu liegen hat, sind beim Provenzalischen Spiel fünfzehn bis einundzwanzig Meter vorgeschrieben, weshalb es auch als langes Spiel (frz. la longue) bezeichnet wird.

Während bei Petanque der Spieler im Kreis steht oder hockt, hat er beim Provenzalischen Spiel komplizierte Bewegungen auszuführen: Beim Legen muss er einen Schritt aus dem Kreis heraustreten – meist seitlich, um eine optimale Wurfbahn zu finden – und kann das zweite Bein auf dem Boden im Kreis belassen. Hebt er es aber ab, so darf er es erst wieder niedersetzen, wenn die Kugel gespielt wird. Typischerweise steht der Leger daher auf einem Bein. Der Schießer hingegen muss drei Schritte aus dem Kreis herauslaufen – in Richtung der zu schießenden Kugel – und beim dritten Schritt seine Kugel spielen. Der Wurf wiederum ist nur gültig, wenn die Kugel in mindestens einem Meter Distanz von dem angekündigten Zielobjekt aufschlägt.
Liegen beim Provenzalischen Spiel die Akzente stärker auf Kraft, Beweglichkeit und athletischer Körperbeherrschung, die den Erfolg insbesondere beim Schießen von ausdauerndem Training abhängig machen, so garantiert die ruhige Körperhaltung beim Pètanque höhere Erfolgschancen auch beim Schießen, selbst bei geringerer Übung. Legen und Schießen erhalten einen gleichwertigen Anteil am Spiel. Die insgesamt erhöhten Chancen, vorher überlegte Spielzüge auch verwirklichen zu können, lassen Fragen der Spieltaktik einen größeren Stellenwert gewinnen.

Der Name – Ped tanco

Die Körperhaltung des Pètanque-Spielers hat dem Spiel seinen Namen gegeben. Pètanque ist abgeleitet aus dem erst seit etwa 1930 bekannten, französischen Begriff pied tanquè, der vom provenzalischen ped tanco stammt. Ped tanco heißt übersetzt: „Auf dem Boden fixierter Fuß“.

Die Spielregeln verlangen dementsprechend, dass die Spieler ihre Füße von deren Platz im Kreis erst vollständig abheben dürfen, wenn die gespielte Kugel den Boden berührt hat.

Das geeignete Spielgelände

Ein trockener, fester Platz mit ein paar Bäumen, die Schatten spenden, wenn die Sonne heiß scheint, das ist die ideale Umgebung für ein Pètanque-Spiel. In der Provence finden sich diese Plätze meist in der Nähe eines Cafès oder einer Bar, wo nach dem Spiel Sieger und Besiegte die Freundschaft bei einem Gläschen wieder besiegeln können.
Aber Pètanque braucht diese Umgebung nicht notwendigerweise. Man spielt es auf jedem Gelände, welches es erlaubt, den Verlauf des Spiels in allen Phasen gut zu überblicken. Bevorzugt wird unbewachsener Boden, aber auch ein kurzer Rasen oder ein Waldboden mit Nadelbelag kann sich eignen. Meistens werden festgefahrene Wege, Plätze oder Höfe mit Sand,- Kies- oder Schotteroberfläche gewählt. Löcher, Auswaschungen, Rillen machen das Spiel für den Leger schwieriger, aber auch reizvoller. Abschüssige Flächen, auf denen die Kugeln oft erst am Ende der Neigungen liegen bleiben, sind bei Legern nicht so beliebt und verschieben den Akzent des Spiels auf das Wegschießen jeder halbwegs gut platzierten gegnerischen Kugeln. Große Asphalt- oder Betonflächen werden ebenfalls selten gewählt, weil hier die Kugeln zu stark rollen oder springen. Immer häufiger anzutreffen sind künstlich angelegte Spielflächen (frz. boulodrome), die nach der Zunahme des Autoverkehrs in Frankreich von Clubs als Ersatz für die zu Parkplätzen gewordene öffentlichen Plätze gebaut wurden. Sie haben oft eine glatte, befestigte Oberfläche mit feinkörnigem Sand- oder Kiesbelag. Im Norden Frankreichs sind diese Flächen zunehmend überdacht, zum Schutz gegen Regen und Schnee.

Spielfeldmaße und Begrenzungsregelung

Ein wichtiges Thema ist die Begrenzung des Spielfeldes. Bei Wettbewerben werden rechteckige Flächen abgesteckt, die mindestens 3 x 15 m Seitenlänge haben müssen. Das Spiel startet im Anwurffeld welches durch Schnüre markiert ist. Wenn eine Kugel während des Spiels an der Seitenlinie in ein direkt angrenzende Spielfeld (nicht Seitenauslinie) rollt ist diese noch gültig.  Alle anderen Flächen sind unerlaubtes Gelände und Kugeln, die dorthin rollen, werden für ungültig erklärt.
Bei Freundschaftsspielen gibt es keine begrenzten Felder. Dennoch besteht die Notwendigkeit, die absoluten Grenzen zwischen erlaubtem und unerlaubtem Gelände klar zu ziehen. Üblich ist, Kugeln, die künstliche Bauwerke (Mauern, Gartenbänke usw.) berühren oder die in Blumenrabatten oder unter Büsche laufen, als ungültig („tot“) zu erklären. Hingegen wird es meistens toleriert, dass Kugeln Bäume oder deren Holzstützen berühren; sie bleiben dann gültig, auch wenn ihre Richtung sich durch den Aufprall geändert hat.

Wetter und anderes

Am angenehmsten ist das Pètanque-Spiel bei warmem, trockenem Wetter, und zwar nicht nur wegen der Bequemlichkeit, sondern auch weil das durchs schlechte Wetter geminderte körperliche Wohlbefinden den Spielerfolg behindert. Mit klammen Fingern spielt man ungenau.
Dennoch wird das Wetter von Pètanque-Spielern meistens so genommen, wie es kommt. Ein Regenschauer führt höchstens zu einer kurzen Unterbrechung. Dagegen hat es schon Wettbewerbe gegeben, die trotz strömenden Dauerregens nicht abgebrochen wurden. Es gibt sogar Turniere, die regelmäßig zu Weihnachten auch bei Frost und auf festgetretenem Schnee bei einer großen Zahl hartnäckiger Teilnehmer sehr beliebt sind.

Von Pètanque wird niemand enttäuscht. Mit seinen leicht erlernbaren Grundregeln kann es ein geselliger Freizeitspaß sein, auch für unerfahrene Spielerinnen und Spieler, die nur gelegentlich zu den Kugeln greifen.
Als spannendes Wettkampfspiel verlangt es dagegen Konzentrationsfähigkeit sowie gute Kondition und setzt viel Übung voraus. Es ist populär, weil es viele Motive anspricht und für Teilnehmer mit unterschiedlichen Graden des Könnens und der Übung immer abwechslungsreich und reizvoll bleibt.
Die Mindestanforderungen sind gering: Man muss über die Kraft verfügen, eine etwa 700 g schwere Kugel über eine Strecke von sechs bis zehn Metern zu werfen oder zu rollen. Für Kinder ab etwa sieben Jahren und für Erwachsene also kein Problem. Nur allerschwerste Formen der Körperbehinderung schließen ein Mitmachen aus. Für junge Spieler sehen die Regeln kürzere Distanzen vor, für Behinderte angemessene Erleichterungen, wie z.B. Aufstützen mit der Hand.
In der Praxis findet Petanque bei Männern und Frauen ein unterschiedliches Interesse.
In der Vergangenheit war es wie bei verwandten Spielen (vielleicht mit Ausnahme von Bowls) fast ausschließlich ein Betätigungsfeld für Männer. Doch scheint sich das gegenwärtig deutlich zu ändern. Waren in Frankreich 1975 nur drei Prozent der Lizenzen an Frauen ausgegeben, so hatte sich die Zahl 1984 auf acht erhöht, im Elsass sogar auf vierzehn. In Deutschland können bei Wettbewerben noch höhere Teilnahmequoten von Frauen beobachtet werden. An den 1985 in Frankfurt ausgetragenen Deutschen Meisterschaften hatten sich bei insgesamt 345 Teilnehmern 55 Frauen gemeldet, also sechzehn Prozent. Das tatsächliche Interesse am Spiel liegt wohl noch deutlich darüber.

Die ersten deutschen Spieler sahen in dem Spiel häufig den Ausdruck einer geselligen und unkomplizierten, gallischen oder gar südfranzösischen Lebensart, dem „savoir-vivre“, von dem sie auch zu Hause ein Stück für sich verwirklichen wollten. Inzwischen haben sich mit zunehmender Verbreitung neue Mitspieler gefunden, die mehr den Reiz des Spiels selbst als seine Herkunft im Auge haben. Zugleich hat der Gebrauch der französischen Fachausdrücke stark nachgelassen.

Die wichtigsten französischen Boule-Ausdrücke

le barrage——————Entscheidungsspiele zur Qualifikation zur Hauptrunde im Wettbewerb
le bec————————Benutzen einer Kugel, die bereits im Spiel liegt, als Bande
le biberon —————–Mitnehmen des Ziels mit einer Kugel im Spiel
le bouchon —————Ziel (südfranzösisch)
la boule ——————–Kugel
le boulodrome ———- künstlich angelegter Spielplatz
le but ———————- Ziel (nordfranzösisch)
le cadrage ————— Entscheidungsspiel zur Qualifikation zur Hauptrunde im Wettbewerb
le carreau ————— Volltreffer
la casquette ———– Treffen einer Kugel von oben, „auf die Mütze“
le cochon,
le cochonnette ——–Ziel (Schweinchen)
le cornichon ———– Ziel (Gürkchen)
la demi-portèe ——– Halbbogen
la donnèe ————— Aufschlagpunkt
la doublette ————- Zweiermannschaft
la mêlèe —————– Wettbewerbsform (am Anfang zugeloste Partner)
la mène —————— Aufnahme
le milieu —————— Mittelspieler in Dreiermannschaft
le palet (roulant) ——- Schusskugel, die nicht weit wegrollt („rollender Spielstein“)
le petit ——————– Ziel (Kleines)
pointer ——————– legen
le pointeur —————-Leger
la portèe —————– hoher Bogen
la raclette —————- Flachschuss (Kratzer)
la rafle ——————— Flachschuss
le retro ——————– Schusskugel, die nach Aufprall zurück rollt
le rond ———————Abwurfkreis
la roulette ————— gerollte Kugel beim Legen (Rollen)
la supermêlèe ——— Wettbewerbsform (für jedes Spiel wird ein neuer Partner zugelost)
la tête a tête ————Spiel zwischen zwei Einzelspielern
tirer ————————-Schießen
le tir devant—————Schuss vor die Kugel
le tir au fer—————-direkter Schuss
le tireur———————Schießer
la tirette——————–Messgerät (metallener Zollstock mit einem verschiebbaren Teilstück
la triplette—————- Dreiermannschaft

Boule im Bild: Eine Auswahl von Postkarten Link zur Homepage des Förderverein „Alter Wasserturm“

Das Spiel für die Seele ( aus der Zeitschrift: Stern )

Boule ist das gefühlvolle Werfen von Eisenkugeln über einen Sandplatz. Vor allem aber: französische Lebenskunst pur. Mitmachen kann jeder

Papazian ist Philosoph. Eine Berufsbezeichnung, die der Mensch im Süden Frankreichs auch ohne Studium führen kann. Eine dunkelgraue Baskenmütze beschattet sein zerfurchtes Gesicht. Er sitzt auf einer Bank unter Platanen auf der Place des Lices. Die Zigarette hält er in der linken Hand, als wollte er sie wiegen. In der rechten liegen zwei Eisenkugeln. Sie sind mit Kratzern und Kerben übersät. „Es gibt zwei Sorten von Männern“, sagt Papazian. Er zieht an der Zigarette, Kunstpause. „Die einen hetzen auf dem Rasen wie die Verrückten dem Ball hinterher, Bon. Die anderen …,“ er lächelt, so wie die Alten nun mal lächeln, die aus Erfahrung klug geworden sind, „die anderen schieben lieber eine ruhige Kugel.“ Voila, c’est ca. Das ist Boule.

Unternehmen wie Mercedes-Benz oder L’Oreal schicken ihre Führungskräfte zu Papazian nach St-Tropez. Er gibt den gestressten Managern, Handelsvertretern oder Ingenieuren zuerst die Kugel und lehrt sie dann, dass Boule „ein Spiel für die Seele“ ist. Eine entspannte Lebensart. Ihr Geheimnis, so Papazian, laute: Erlerne die Ruhe des Südens! Überlass die Adrenalinschocks den Verrückten! Entspanne im gemütlichen Wettstreit!

Anders gesagt: Boule ist die konsequente Fortsetzung des Savoir-vivre.

Mit seinem Freund Jean Leger führt Papazian den Club „La Boule Tropezienne“. Der penible und korrekte Jean ist der Vorsitzende. Der Charmeur Papazian gibt den Mann für die Außendarstellung, den idealen Repräsentanten für einen Ort wie St-Tropez. Das Fischerdorf gilt immer noch als Treffpunkt des Jetsets, der alternden Millionäre und der immer jungen Playboys. Für Boulespieler ist St- Tropez zudem ein „mythischer Ort“, wie Jean behauptet. „Hier muss man gespielt haben!“ In St-Tropez hat ein regelrechter Boule-Tourismus eingesetzt. „Auch wenn die meisten von ihnen noch nicht unser Niveau erreichen, wir lassen sie trotzdem mitspielen“, sagt Jean. Manche der Gäste kommen mehrmals im Jahr, um den Alten ihre Tricks abzuschauen.

Die wunderschöne und altehrwürdige Place des Lices ist von Bars, Restaurants, Boutiquen, Hotels und Lebensmittelgeschäften umsäumt. Der Mittelpunkt des Lebens von St-Tropez. Eine ideale Bühne für Boule.
Das Schauspiel beginnt. Raymound der Poet tritt auf. Seine Glatze bedeckt eine beigefarbene Schiebermütze, die er niemals absetzt. Warum die anderen ihn so nennen? Weil er ein Idealist ist, dem die Schönheit des Spiels über alles geht. Was er wirklich macht? Ist doch egal. Auf die Place des Lices kommen die Menschen, um zu vergessen, was sie wirklich machen.
Raymound steht im Abwurfkreis wie im Scheinwerferlicht. Er setzt sich in Pose. Raymound ist ein „pointeur„, einer, der das gefühlvolle Legen der Eisenbälle möglichst nah an die kleine Zielkugel beherrscht, an das „cochonnet„, das Schweinchen. Raymound streichelt seine Kugel, lässt sie locker in der Hand kreisen, um sie dann mit traumhafter Sicherheit einen Zentimeter neben die hölzerne Sau zu platzieren.

Das ist vom Gegner kaum besser zu machen. Also muss Raymounds Kugel aus dem Weg geschossen werden. Noèl muss ran. Er ist der wortkarge Sprengmeister, im Boule-Jargon „tireur“ genannt. Die kompliziertesten Kugelstellungen bombt er mit einem einzigen Wurf auseinander. Meist hält er seine rissigen Hände vor seiner

Gürtelschnalle gekreuzt und beobachtet mit zusammengepressten Lippen die Partie. Erst wenn er gebraucht wird, lebt er auf. Er haucht kurz in seine geballte Hand. Dann tritt er an. Bei ihm sieht der Wurf so aus, als schmeiße er eine Handgranate in den feindlichen Graben.
Noel kann jedoch mehr als nur zerstören. Er liebt es, den schwierigsten aller Würfe zu bringen. Diesmal hat er ihn auch noch mit einem „retro„, einem Rückdrall, versehen. Seine Kugel knallt die feindliche weg; die reißt noch eine weitere mit, während Noèls Kugel plötzlich kehrt macht und auch noch zart gegen das anfangs überrundete „cochonnet“ tippt – der Königswurf!

Eigentlich ist Boule ein einfaches Spiel, kompliziert ist nur die Taktik. Die einen legen eine Kugel nahe ans Ziel, die anderen müssen entweder dichter ran oder die gegnerische wegschießen – aus dieser simplen Konstellation ergeben sich die vielfältigsten Möglichkeiten. Hier beginnt der so beliebte Boule-Ritus: fragen, schauen, beurteilen. Wie gut liegt die Kugel des Gegners? Legen oder schießen? Dann erst die Entscheidung, die Konzentration, der Wurf. Das „bien joue„, der Jubel. Oder das „merde„, das Lamentieren.

Während Papazian seine Kugel mit dem Lappen vom Staub säubert und sich auf seinen Wurf vorbereitet, lassen die anderen ihre Murmeln aus Eisen in den Händen aneinander klacken. Eine geradezu sinnliche Untermalung. Jeder hält die Kugeln auf seine Weise. Aber eines ist ihnen allen gemeinsam: Sie sind zärtlich zu ihren Spielgeräten. Die Finger tasten gedankenvoll die Rundungen ab. Niemals legen sie ihre Kugeln beiseite. Es hat schon etwas Machohaftes, wie sie ihre Boulekugeln behandeln. Eben noch liebevoll von allen zehn Fingern umworben, Sekundenbruchteile später Bombe, Rammbock, Geschoss.

Papazian bringt sich in Stellung. Er lässt seine Kugel durch die Finger gleiten und beschwört die magische Freundschaft zwischen Hand und Eisen: „Ist die nicht da, kann man auch nicht gut spielen.“

Papazian ist ein Künstler, der die graziösesten Würfe inszeniert. Der Verlauf der Kugel spiegelt sich in seiner Mimik wider. Er möchte, dass sie seiner Stimme gehorcht. Er beschleunigt oder bremst ihren Lauf. Er feuert sie durch Gesten an und treibt sie durch Schulterbewegungen nach vorn. Er mäßigt sie mit der Hand; auf Zehenspitzen tänzelnd, mit ausgestreckten Armen verleiht er seinem Körper die eigenartigsten Bewegungen. Es scheint, als sei seine Seele in die Kugel gewandert – der Eisenball rollt so nah an das „cochonnet„, dass nicht mal ein Blatt Papier dazwischenpasst. Papazian ist mal wieder von sich selbst überwältigt. Er reißt die Arme hoch: „Ich bin ein Siegertyp!“
In der nächsten Runde verliert Papazian mit seinen Partnern, weil er den letzten Wurf total vermasselt.

Die Fanny küssen

Ein Glück für ihn, dass er das Spiel nicht zu null vergeigt hat. Dann hätten er und seine Mitspieler die Fanny küssen müssen. Raymound der Poet erzählt von dieser Boule-Sitte und lacht sich dabei kaputt. Fanny war der Legende nach ein kurvenreiches Mädchen aus Lyon und hatte einen Hintern, der so breit war wie ein Bidet. Sie schaute den Boulespielern zu, hob für die Verlierer ihre Röcke und entblößte ihr nacktes Hinterteil, das dann zu küssen war. Heute hängt in fast jeder Boule-Bar eine Karikatur der Fanny als Bild oder Ikone, mit hoch gehobenem Rock, versteht sich, und der liebevollen Aufforderung: „Baiser la Fanny!“
Schwer zu sagen, ob Boule ein Sport, eine Weltanschauung oder doch nur ein Spiel ist. Oder schlicht ein „amusement“, wie Jean meint. Fest steht: über den Tag verteilt, geht ein Spieler einige Kilometer. Die meiste Zeit betrachtet man den Boden. Man berechnet Abstände, fuchtelt mit den Händen, reißt seine Witze und versucht dauernd den Gegner abzulenken. Und danach geht’s in die Bar.
Noel, Raymound, Jean und Papazian stehen in „Le Cafe“ an der Theke. Sie schwärmen von ihrer Leidenschaft. Jeder könne mitmachen: der Übergewichtige, der Untrainierte, sogar der Unsportliche. Das mache Boule so liebenswert – und zum demokratischsten aller Spiele. „Boule …“, sagt Papazian. Bevor er weiterredet, genehmigt er sich erst mal einen Schluck von seinem Petit Rouge, „Boule will dich so, wie du bist.“

BOULE IN ST-TROPEZ . Hier macht’s am meisten Spaß.

An der Cote d’Azur und in der Provence gibt es in jedem Dorf Bouleplätze. Die schönste Sandbahn liegt auf der herrlichen Place des Lices in St-Tropez. Dort treffen sich am Nachmittag die Boulespieler. Der Verein „La Boule Tropezienne“ hat seinen Sitz direkt am Platz im „Cafe des Arts“, ein weiterer Treffpunkt ist „Le Cafe“ gleich nebenan. An den Wochenenden finden oft „concours amicals“, kleine Wettbewerbe, statt. Startgebühr: etwa 5 Euro.

Kugelsicher unter Platanen (aus der Zeitschrift: merian)

Boule ist die schönste Art, einen Nachmittag zu vertrödeln. Der Tod der Hektik, die Antidroge des Adrenalins. Hier ein Annäherungsversuch an Flugkurven, Schweinchen und eingekreiste Füße.

Die Reise beginnt mit den Ohren. Schließe die Augen, lausche dem Klang der Provence.

Ist es das Zirpen der Arkaden? Das Rauschen des Mistral? Nein, es ist das Knirschen von Sohlen auf Kies; das Reiben von Metall an Metall in derben Männerhänden; der melodische Disput knorriger Stimmen; das Kullern der Kugel über den holprigen Boden; und dann der satte metallische Schlag wie der des Hammers auf den Meißel, wenn der perfekte Wurf gelingt, das carreau: der Treffer, der die störende Kugel wegbefördert und die geworfene genau dort liegen lässt. Dann ein anerkennendes Murmeln: „Bien jouè“.

Und wieder das Knirschen von Sohlen auf Kies. Nie wird man hier einen Jogger hecheln hören. Und nie, nie bimmelt ein Mobiltelefon. Augen auf – zum Boule. Oder, nehmen wir es genauer: Pètanque. Das ist viel mehr als ein Hörspiel. Es ist das Spiel des Lebens, des französischen jedenfalls. Ein linder Samstagnachmittag in Eygalières, eine Bank unter Platanen. Ein concours. So nennen sie hier die kleinen dörflichen Wettbewerbe, bei denen sich Wochenende für Wochenende in der ganzen Provence ein paar 1000 Boulisten die Kugel geben. Renaults, Peugeots und Citroens halten auf dem Parkplatz, der auch der Boule-Platz ist. Aus den Kofferräumen werden geheimnisvolle Utensilien gekramt.
An der bröckelnden Mauer ein kleines Plakat: 20 Francs Teilnahmegebühr, 200 Francs Prämie für jeden, der am Ende im siegreichen Dreier-Team steht. Zuschauen kostet nichts. Dabei ist es wie ein Hauptgewinn. Pètanque in der Provence, das ist ein kleines Volkstheater des Südens.

Nennen wir das Schauspiel „Die Jagd nach dem Schweinchen“. Ein ganz ruhiges, kleinbürgerliches, heiteres Stück. Mit Gesichtern, die Geschichten erzählen. Mit Figuren, die das Panoptikum gallischer Vitalität in Hochform erleben lassen. Aufgeführt wird es für den Franko-, also Boulophilen sogar im winzigsten Ort, auf Kies- und Schotterplätzen am Rande der Dörfer und im flimmernden Schatten der Platanen auf den Ringboulevards der Städte.

Bühne frei. Es tritt auf der liebenswerte Debattierer, der den Spielfluss hemmen wird mit der nie perfekt zu beantwortenden Dauerfrage „Tirer ou pointer“ – werfen oder legen? Wenn der Spieler am Wurf nicht auf seinen Rat hört, dann wirft er die Arme hoch und ruft: „Oh là là !‘‚ Die nächste Rolle hat der Boule-Künstler, der über den Platz stolziert wie ein Gockel und dessen Fehlwürfe bei den anderen leise Häme auslösen. Dann gibt es den wortkargen Vollstrecker, der komplizierteste Dessins mit einem einzigen gewagten Wurf zu sprengen versteht; wenn das aber misslingt, wird er ein leises „merde“ durch den Rauch seiner „Gitanes“ pressen. Es gibt den lächelnden Giftmischer, der dem misslungenen Wurf des Gegners ein gönnerhaftes „Die Idee war gut“ hinterherschickt.

Junge und jüngere Männer sind auch da: sie bewegen sich wie die Eidechsen in der Sonne. Aber entscheidend prägen das Bühnenbild die Alten und Ãlteren, die all die behagliche Behäbigkeit des Spiels in ihre eigene Körpersprache übersetzt haben – die sich nicht einmal unnötig bücken nach den Kugeln, sondern sie am Magnetband hochschnappen lassen wie das Chamäleon die Fliege an der Zunge.
Es ist unverkennbar die Bühne der Älteren. Da stellen sie sich hin in den rond, den kleinen Kreis, der mit dem Stock um ihre Füße in den Staub gekratzt ist; visieren ihr Ziel an, spannen sich, gebeugt, aber voller Haltung, krümmen Unterarm und Handgelenk bogenförmig nach hinten – und in einer unerwartet leichten, ja, grazilen Bewegung schieben, schießen, schleudern sie das Metall dorthin, wo es denn hin muss.

Oder nicht? Jedenfalls muss darüber diskutiert werden, und das tun sie mit Wonne. Und Ausdauer. Sie haben die Ruhe weg. Dabei ist ihre Zeit begrenzt. Denn um halb sechs ist die Aufführung vorbei. Dann verschwinden sie wieder Richtung Ehefrau und Abendessen. Während des Spiels wird man nie jemanden beim Imbiss erleben, keinen mit Kühltasche oder Picknickkoffer. Zwei viel zu wichtige Dinge, als dass man sie verquicken dürfte: Boule und Essen.

Das Unwiderstehliche an Pètanque

DAS UNWIDERSTEHLICHE an Pètanque: Es ist ein Sport für Unsportliche. Und einer, der das Altwerden nicht zum Verfallsdatum macht, dem Alter Würde, ja, sogar Grazie lässt. Überall auf den Bühnen der Provence wird das sichtbar: auf dem Spielfeld beim Friedhof von Goult, dem Parkplatz von Venasque oder auf der Place von Eygalières. Nachmittags zwischen drei und halb vier kommen die Männer mit ihrem Kugelsack und Klappstuhl an, manche gebrechlich, einige von scheinbar abgrundtiefer Müdigkeit. Männer, die sich im Angesicht der Kugel auf geheimnisvolle Weise verändern, plötzlich Kraft und Autorität ausstrahlen.

Diese Verwandlung spiegelt auch die Geschichte des Pètanque, das aus dem raumgreifenderen boule provencal hervorgegangen ist. Auf dem Boule-Platz von La Ciotat an der heutigen Avenue de la Pètanque spielten im Frühsommer des Jahres 1910 ein paar Männer das athletische jeu provencal, das auch la longue (Langes Spiel“) genannt wird. Ihr gehbehinderter Freund Jules Lenoir musste untätig zuschauen. Da hatten sie die Idee, das Spiel so zu verändern, dass auch der Mann im Rollstuhl mitmachen konnte. Man legte fest, dass der kleine hölzerne Zielball, das „Schweinchen“ (cochonnet), nicht wie bisher 15 bis 21 Meter, sondern nur noch sechs bis zehn Meter weit zu befördern sei und das Werfen der Eisenkugeln nicht mit drei Schritten Anlauf, sondern stehend mit geschlossenen Füßen (provencalisch ped tanco, französisch pied tanquè) zu erfolgen habe. Heute erinnert eine Tafel am Pètanque-Platz von La Ciotat an die Entstehung der beliebtesten Form des Boule, die sich auf das athletisch Nötigste beschränkt und dafür dem Spielerischen, Kommunikativen mehr Raum gibt. Es war der Durchbruch zum wahren Volkssport.

„Früher haben wir das nur in der Provence gespielt, heute ist es in ganz Frankreich verbreitet“, sagt Didier Martinez, wirft die „Gitanes“-Maispapier-Zigarette weg und entblößt lächelnd ein paar bräunliche Zähne. Mit seinen beiden ausgelosten Mitspielern hat der 62-jährige Rentner den Concours in Eygalières gewonnen, gegen rund 50 andere, darunter auch ein halbes Dutzend Frauen (mehr als zehn Prozent der französischen Boule-Spieler sind inzwischen weiblichen Geschlechts).

Für diesen Erfolg hat sich für Martinez die knapp einstündige Autofahrt aus Martigues am Rande der Camargue gelohnt. Einer wie er ist der geborene milieu (Mittelspieler), der das gefühlvolle Legen des Balls möglichst nah ans kleine Schweinchen ebenso beherrscht wie das dynamische Werfen, das Wegschießen der gegnerischen Kugeln. Als Erster tritt immer der pointeur in den Wurfkreis, als Letzter der tireur und dazwischen braucht man einen wie Martinez. Stolz zeigt er den Spieler-Pass, in dem seine Erfolge aufgeführt sind. Rund 500.000 Franzosen haben einen solchen Pass. Mindestens zehnmal so viele spielen Boule ohne Ausweis. Auch die Kugeln von Monsieur Martinez haben einen Ausweis. Da steht genau drin, was man über sich selbst nicht so gern im Pass läse: Alter, Umfang, Gewicht.

Die Kugeln

WIR WIEGEN DIE KUGELN in der Hand hin und her. Sie sind eine Wissenschaft für sich. Die angenehme Schwere lässt keine Fahrigkeit, keine Unruhe zu und verlangt Spieler, die mit beiden Beinen auf der Erde bleiben. Und dann die herrliche Kühle des Metalls, das sich in der Faust schnell erwärmt, beinahe verschmilzt mit den Poren, sowie die wunderbar glatte und zugleich ungleichmäßige Oberfläche, deren winzige Beulen und Krater von Tausenden Karambolagen erzählen. Ferner die feine Gravur der wichtigsten Charakter- eigenschaften – Herkunft, Gewicht und Seriennummer – und schließlich auch die Farbe: ein mattes Dunkelgrau, gestoßener Stahl mit der Patina und den Verfärbungen und Schattierungen eines alten, verlässlichen Werkzeugs.

Dieses Werkzeug ist so groß wie eine Orange. Die geriffelten, schwereren, härteren, kleineren Kugeln werden gelegt, also entweder gerollt oder in steifer Flugkurve nahe zum Ziel platziert (die Rillen helfen, Effet und Bodenhaftung besser umzusetzen). Die glatten, leichteren, größeren sind für die flache Flugbahn geschaffen, fürs Wegschlagen anderer Bälle. Boule-Kugeln werden aus zwei Stahlhälften elektrisch verschweißt. Heute gibt es für das Spielgerät in Frankreich sogar eine Industrienorm. Sie soll nicht nur das Mogeln erschweren – mit einer verbotenen Blei- oder Quecksilber-Füllung des vorgeschriebenen Hohlraums lässt sich durch Vergrößerung der Trägheit die Genauigkeit beim Legen erhöhen (worauf bis zu 15 Jahre Sperre stehen) -, sondern auch verhindern, dass billige Importware den beiden großen französischen Herstellern das Geschäft vermiest. Die produzieren in jedem Jahr mehr als fünf Millionen Kugeln. Es heißt, man müsse neue Kugeln mindestens eine Nacht mit ins Bett nehmen. Das Schweinchen in die Mitte, die drei anderen drumherurn, damit sie sich aneinander gewöhnen. Wenn man sie nicht enttäusche, blieben sie Jahrzehnte treu.
VIEL MEHR ALS DIESE TREUE braucht man nicht für Pètanque. Ein Säckchen für die Kugeln, einen Lappen, um sie zu reinigen, dazu eine Schnur, um in Zweifelsfällen die Abstände und Platzierungen auszumessen (wofür aber auch ein Streichholz, ein Schuh, ein Taschentuch oder ein Kugelschreiber ausreichen können). Alles Weitere ist schon Luxus.

Selbst der Ort stellt kaum Ansprüche. Er kann ein Weg sein, ein Platz, ein Hof, mit Sand, Kies oder Schotter bedeckt, aber auch ein kurzer Rasen oder ein Waldboden mit Nadelbelag. Nur asphaltglatt oder matschig-feucht darf er nicht sein.
Boule ist das Ideal eines Spiels. Es macht sich nicht wichtig, ist nicht kompliziert und lässt Platz für die wahren Dinge des Südens: Sonne, Wärme, Muße. Als Zeitvertreib des einfachen provencalischen Lebens hat es ganz Frankreich erobert und auch in Deutschland seine Jünger gewonnen. Der Siegeszug begann in den sechziger Jahren, als Pètanque sich durch die Rückkehr der Algerien-Franzosen landesweit verbreitete. Seitdem werden die Begriffe Boule und Pètanque zunehmend deckungsgleich verwendet, obwohl auch lokale Spielarten nach wie vor gepflegt werden. Der sanfte Herbstnachmittag in Eygalères geht zur Neige. Didier Martinez hält Ausschau, um einen weiteren Boulisten für das Spiel zu gewinnen. Er muss uns ansehen, dass er Erfolg haben wird. Er drückt uns eine seiner sonnenwarmen Kugeln in die Hand: „Probier’s mal.“ Wir nehmen die Kugel, die sich ganz anders anfühlt als die chromglänzenden Dinger aus dem Supermarkt, wiegen sie hin und her und spüren etwas Geheimnisvolles von ihr ausgehen. Es ist wie eine Muße-Infusion durch ein metallisches Medium. Eine Kraft strömt durch Finger und Hand und Arm und Schulter bis ins Hirn. Dort verändert sie den Aggregatzustand des Denkens. Wir halten inne, das Geheimnis der Kugel hat uns gepackt: die glückliche Ruhe des Südens. Und dann der Klang, die Musik der Provence: knirsch, kuller, klack. Keine Reise für die Ohren, eine für die Seele.

Text: Christian Eichler, Sportredakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Fotos: Tina Hager

Die Spielregeln

Gespielt wird in der Regel mit sechs Kugeln pro Partei. Beim Triplette zwischen Dreier-Teams hat jeder Spieler zwei Kugeln und beim Doublette zwischen Zweier-Teams jeder drei. Der seltenste, weil ungeselligste Fall ist das Tête a Tête das Spiel eins gegen eins, bei dem jeder Akteur drei Kugeln wirft. Zu Beginn einer Runde wird das cochonnet, das „Schweinchen“, eine etwa tischtennisballgroße Holzkugel, 6 -10 m weit fortgeworfen. Die Mannschaft, deren Kugel(n) dem Schweinchen am nächsten liegt/Iiegen, hat die Runde gewonnen. Für jede ihrer Kugeln, die näher am Schweinchen liegen als die beste Kugel der Gegner, erhält sie einen Punkt, also bis zu 6 Punkte. Ein Spiel ist in der Regel beendet, wenn ein Team 13 Punkte erreicht hat.

Zum Spielhergang: Wer zuerst wirft, wird ausgelost, von da an bestimmt die Lage der Boules, wer als nächster am Spiel ist. Wer die bestplatzierte Kugel hat, kann zusehen und seine Kugeln sparen, bis der Gegner eine bessere gelegt oder die bessere wegbefördert hat. Alle Würfe müssen mit geschlossenen Füßen (piedtanquê) aus einem Kreis heraus erfolgen, der zu Beginn um die Füße des ersten Werfers gezogen wird. Am Anfang der Partie wird versucht, eine Kugel möglichst nah an das Schweinchen zu legen (pointer). Hat der Gegner eine Kugel gut platziert, tritt Phase zwei in Kraft, das Werfen (tirer): Mit kraftvoller Ausholbewegung aus Häfte und Unterarm wird die Kugel in flacher, schneller Flugkurve auf die liegende Kugel des Gegners geschleudert, um sie wegzuschlagen. Im Idealfall bleibt die geworfene Kugel genau dort liegen, wo die andere zuvor lag. So kann man auch am Ende, wenn der Gegner seine Kugeln schon verschossen hat, mit ein paar exakt platzierten Kugeln leichte Punkte sammeln.

Das Spielgerät in Maßen

Infos hierzu finden Sie unter dem Link die Kugel.

 

Quelle: Marburger Boule-Club „Le Carreau“ e.V.